Klassifizierung des Märchens

07.11.2013

Klassifizierung des Märchens


Die Frage der Klassifizierung des Märchens ist bis heute weder in der russischen noch in der Wissenschaft des Auslands endgültig geklärt. Ein allgemeiner Mangel aller vorgeschlagenen Klassifizierungssysteme besteht darin, dass ihnen kein einheitliches Prinzip zugrunde liegt. Jede der genannten Arten des Märchens umfasst wiederum unterschiedliches Material. So müssen bei diesem Klassifizierungssystem beispielsweise den Zaubermärchen auch die legendenähnlichen und die Heldenmärchen zugerechnet werden, den Abenteuermärchen auch die historischen und die novellistischen, den Alltagsmärchen auch die satirischen Märchen und die Schwänke. Die vorgeschlagene Klassifizierung erschöpft natürlich nicht alle Arten des Märchens und erhebt nicht den Anspruch auf Endgültigkeit. Wichtig ist nicht die Klassifizierung als solche, von Wichtigkeit ist es vielmehr, das eigentliche Wesen und die poetischen Besonderheiten einer jeden Märchenart zu erfassen.

Die erste Erwähnung russischer Märchen findet sich in der Kiewer Rus, doch ihre Wurzeln verlieren sich in unbekannte Vorzeit. Wann eine bestimmte Erzählung ihren Platz im Genre gefunden, wann sie ihr Leben gerade im Bereich des Märchens und nicht etwa im Bereich der Legende oder der Sage begonnen hat, lässt sich exakt schlechterdings nicht feststellen. Es steht außer Zweifel, dass viele Tiermärchen sowie auch viele Zaubermärchen, die im Repertoire des Volkes bis auf unsere Tage lebendig sind, genetisch in die Zeit vor der Klassengesellschaft zurückreichen. Doch haben sich diese alten Elemente im Märchen funktionell so sehr verändert und existieren nur in so allgemeiner Form weiter, dass man keineswegs mehr sagen kann, als dass in den russischen Märchen der Epoche des Feudalismus oder noch späterer Epochen gewisse Elemente urgesellschaftlicher Vorstellungen enthalten sind.

Was freilich die feudale Rus anlangt, so kann es als gesichert gelten, dass Märchen in unserem Sinne in der Kiewer Rus ein weit verbreitetes Genre des mündlichen Schaffens waren. Die altrussischen Literaturdenkmäler enthalten genügend Erwähnungen von Märchenerzählern und Märchen, die jeden Zweifel in dieser Hinsicht beseitigen. Die frühesten Nachrichten von russischen Märchenerzählern und ihrer Rolle im täglichen Leben gehören dem 12. Jahrhundert an. In der erbaulichbelehrenden Erzählung Vom Reichen und Armen wird beschrieben, wie sich ein reicher Mann zur Nachtruhe begibt. Unter den ihn umgebenden Dienern, die ihn auf die verschiedenste Weise unterhalten, werden mit höchster Missbilligung auch solche erwähnt, die „Geschichten erzählen und lästerliche Spottreden führen“, die ihm also vor dem Einschlafen Märchen erzählen. In dieser ersten Erwähnung des Märchens hat bereits die ganze widerspruchsvolle Einstellung zum Märchen ihren Niederschlag gefunden, die wir im Verlauf der Jahrhunderte in der russischen Gesellschaft beobachten können.


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[Miche]